Benjamin swap_horiz

Ich bin mitten im Alltag, stehe mit Kollegen zusammen oder bin beim Sport und frage mich: Gehöre ich zu den Männern? Bin ich überhaupt ein richtiger Mann? Kann ich das leisten, wovon andere Männer erzählen? Oder habe ich überhaupt eine Bedeutung für andere Männer? Wie sehen sie mich?

Wenn ich darüber nachdenke, dann begleiten mich diese Fragen schon lange. – So wuchs ich als Einzelkind auf. Recht behütet bei meinen Eltern. Materiell fehlte es mir an nichts. Dennoch: Bereits während meiner Grundschuljahre kristallisierte sich eine Kluft zwischen meinem Leben und Erleben in der Schule und in meinen sonstigen, familiären Bezügen heraus. Ich kam im Sportunterricht nicht so gut klar und war ungeschickter als die anderen Jungs. Beim Mannschaftssport als Letzter gewählt und ausgelacht zu werden, erschütterte mein Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zunehmend.

Zuhause gelang es meinen Eltern trotz der vordergründig behüteten Familiensituation nicht, mich innerlich abzuholen. Somit hatte ich keinen „Landeplatz“ für meine innere Not. Mein Vater konnte mich nicht verstehen und ist ein Mann, dem es selbst schwerfällt, Beziehungen zu gestalten und mit seinen Emotionen zurechtzukommen. Bei Konflikten schwieg er entweder und zog sich zurück, oder er verhielt sich sehr abfällig und kränkend mir gegenüber. Meine Mutter stand dann oft auf meiner Seite, so dass es zwei Lager in unserer kleinen Familie gab. Sie konnte meinen Wunsch nach Beziehung und emotionalem Aufgefangensein eher verstehen und versuchte, diesem gerecht zu werden. Sie hatte aber aus ihrer Ehebeziehung auch eigene unversorgte emotionale Bedürfnisse, was mir nicht verborgen blieb und Einfluss auf mich hatte.

Im Laufe meiner Entwicklung und mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule setzten sich die Probleme fort und verstärkten sich. Der Sportunterricht war ein wichtiger Faktor, aber als ich mein wackliges Selbstbewusstsein und meine Außenseiterrolle durch unangemessenes Verhalten in der Schulklasse auszugleichen versuchte, wurde ich zum „Klassenkasper“. Ich gehörte damit noch weniger dazu und wurde schließlich auch bewusst von den anderen ausgeschlossen. Ein Teufelskreis nahm seinen Anfang. Die Zugehörigkeit und Geborgenheit und das Teilen der alterstypischen Erlebnisse mit den Gleichaltrigen blieb mir verschlossen. Gleichzeitig gab es keinen Ort, an dem ich das hätte mitteilen können. In der Folge stellte sich eine wachsende Verzweiflung und Traurigkeit ein, die ich aber selbst nur bedingt einordnen konnte. Es fehlte ja die Möglichkeit, mich mit meinem Erleben und meiner Scham vorbehaltlos einem anderen Menschen zu öffnen.

Als Außenseiter, der sich durch sein auffälliges Verhalten teilweise selbst dazu gemacht hatte, gelang es mir auch nicht, herauszufinden, welche Wirkung ich als junger Mann auf das andere Geschlecht haben könnte, geschweige denn, Erfahrungen in dem Bereich zu sammeln. Versuche, die ich in diese Richtung unternahm, wurden immer wieder enttäuscht.

Während die anderen Jungen also ihre ersten Freundinnen hatten, war ich allenfalls außenstehender Beobachter. Ich begann zunehmend, meine männlichen Altersgenossen zu idealisieren, ihre Sportlichkeit, ihre Zugehörigkeit und ihre Stärke, ein Mädchen zu gewinnen. Vor allem letzteres spielte in meinen Phantasien oft eine Rolle: Wenn ich körperlich nur so sein könnte wie die anderen Jungs, dann wäre ich auch fähig, eine Frau zu erobern. - Das tat einerseits weh, andererseits überdeckte ich meinen Schmerz, indem ich die Idealisierung der anderen in meinen Phantasien sexualisierte. Ich stellte mir vor, das Einssein mit so einem angesagten Jungen könnte meine empfundene Unzulänglichkeit und meinen Schmerz heilen und mich in einen attraktiven, heterosexuellen Mann verwandeln. Das lief aber eher als unbewusste Strategie meiner Seele ab. So hatte ich eine Überlebensstrategie gefunden: Wenn schon nicht dazugehören, mithalten können und eine Freundin haben, dann wenigstens Phantasien und sexuelles Hochgefühl erleben.

Dieser aufgrund fehlender tragender Beziehungen schwer zu durchbrechende Teufelskreis begleitete mich fortan, immer angepasst an die jeweilige Lebenssituation. Wirklich einordnen konnte ich mein Inneres zu dieser Zeit noch nicht.

Leider entwickelten sich aus dieser Notlage im weiteren Verlauf zusätzliche Symptome wie Depression, Ängste und Zwänge, für die ich therapeutische und medikamentöse Hilfen in Anspruch nehmen musste. Durch gute Umstände und Kontakte durfte ich mit Ende Zwanzig einen Berater kennenlernen, der sich auf den Weg gemacht hatte, Menschen wie mir ergebnisoffen und vorbehaltlos zu helfen, sich und ihre Geschichte und Sexualität zu verstehen und einzuordnen.

Durch die innere eigene Reflexion meiner Sexualität konnte ich entdecken, dass sie meine Strategie war, um einer Gefühl der Potenz und der körperlichen Vollständigkeit zu erhalten. Irgendwie schien es, als ob ich durch meine Sexualität ein Defizit in meinem Selbstempfinden bewältigen wollte. Da es sich bei mir also um eine „Notlösung“ handelt, ist für mich sehr klar: Ich möchte das ganz bewusst nicht leben, sondern mich auf den Weg machen, mein Mannsein, meine Sexualität, Kraft und Fähigkeiten bewusst neu zu entdecken und zu erschließen. Jetzt, wo ich tragende Beziehungen, gerade auch durch Kontakte zu Menschen, die eine ähnliche Geschichte haben, gefunden habe und lernen durfte, mich selbst zu verstehen sowie Beziehungen positiv zu gestalten, fände ich es paradox, meine Homosexualität einfach als „gegeben“ hinzunehmen.

Auch wenn die homosexuellen Gefühle auch noch Teil meines Lebens sind, so bin ich deutlicher im Leben angekommen. Ich verharre nicht mehr in der Illusion und in der Verschmelzung mit anderen, sondern überlege, was ich in einer konkreten Situation tatsächlich mit einem Mann verhandle. Auf diesem Weg des Innehaltens finde ich zu mir, zu meinen Bedürfnissen und Gefühlen und kann diese auch in Beziehungen einbringen. Auf diesem Weg erlebe ich Gemeinschaft mit Männern, die ich bewusst gestalte. Dadurch wächst in mir Selbstbewusstsein, und ich erlebe authentische Beziehungen und Nähe zu Männern, wie ich das früher nie erfahren konnte.

Natürlich kann man meinen Lebensbericht auch mit der Frage torpedieren, warum ich nicht schwul lebe? – Die Antwort: Weil ich nicht verantwortlich etwas leben kann, von dem ich weiß, dass es auf einer illusionären Grundlage beruht. Meine Homosexualität löst ja nicht mal mein Problem oder meine Fragen, die ich oben formuliert habe. Sie betäubt oder beruhigt diese allenfalls kurzfristig. Das ist für mich keine Option für ein erwachsenes, verantwortliches Leben.

Heute bin ich verheiratet und habe zwei Kinder, ich gehe erfolgreich meiner Arbeit nach und engagiere mich zudem ehrenamtlich. Die Beziehung zu meinen Eltern hat sich deutlich entspannt. Mein Leben empfinde ich als sehr lebenswert!

Ich bin Gott so dankbar, dass er immer an meiner Seite war – auch in den dunklen Zeiten, die ich beschrieben habe. Ihm danke ich auch dafür, dass er mich an seiner Hand den Weg heraus aus dieser Dunkelheit geführt hat. In der Bruderschaft des Weges habe ich heute ein geistliches Zuhause und einen Ort gefunden, an dem ich Ich sein und geben und nehmen darf, zudem einen Ort, an dem Christus, der Gott des Lebens, im Zentrum steht.

Dankbar bin ich, dass ich auf meinem Weg auf Menschen traf, die mich angenommen haben, wie ich bin. Ich wurde nicht verbogen oder zu irgendetwas überredet oder gar gezwungen. Ich durfte lernen, meinen in diesem Bericht beschriebenen lebensgeschichtlichen Konflikt zu verstehen, wurde liebevoll, engagiert und kompetent begleitet. Ich durfte ganz neu lernen, zu leben und Beziehungen zu gestalten.